Medizinprodukteverordnung
Handwerkskammer Konstanz
Der Countdown läuft: Dorothea Faulhaber, Quality Managerin der Faulhaber Pinzetten OHG aus Frittlingen (rechts), bereitet ihr Unternehmen auf die neuen Anforderungen der Medizinprodukteverordnung vor. Ihre Erfahrungen teilte sie mit den rund 100 Teilnehmern eines Infoabends der Handwerkskammer in Tuttlingen.

Eine Branche definiert sich neu

Die EU-Medizinprodukteverordnung stellt Unternehmen vor eine große Herausforderung

Der 26. Mai 2020 schwebt wie ein Damoklesschwert über den Medizintechnikunternehmen der Region Tuttlingen. Der Tag, ab dem die EU-Medizinprodukteverordnung (MDR) verpflichtend anzuwenden ist, lässt viele Handwerksbetriebe um ihre Existenz bangen. Um mögliche Handlungswege aufzuzeigen, hatte die Handwerkskammer Konstanz daher zur Veranstaltung „EU-Medizinprodukteverordnung: Der Countdown läuft“ in die Berufliche Bildungsstätte Tuttlingen geladen.

Heiko Bell von der Bell Qualitätsmanagementsysteme GmbH aus Villingen-Schwenningen gab den Betrieben wichtige Tipps an die Hand, die von Dorothea Faulhaber, Quality Managerin der Faulhaber Pinzetten OHG aus Frittlingen, und Dr. Walter Zwisler vom Zwisler Laboratorium GmbH aus Konstanz mit Beispielen aus der Praxis untermauert wurden.

Denn die neue Verordnung wird einen Umbruch in der Branche nach sich ziehen. Unter anderem sieht die MDR vor, dass bei allen Medizinprodukten nicht nur der Name des Unternehmens zu finden ist, das das Produkt vertreibt, sondern auch das Label der Originalhersteller genannt wird. Laut Heiko Bell etwas, das die Quasi-Hersteller nicht mitmachen werden. Auch seitens der Originalhersteller gibt es große Bedenken, denn diese müssen den Quasi-Herstellern künftig vollen Zugriff auf ihre technische Dokumentation ermöglichen. „Sie haben natürlich Angst, dass ihre Informationen abgegriffen werden“, beschreibt Bell das Dilemma.

Eigener Vertrieb oder verlängerte Werkbank?

Um weiterhin am Markt zu bestehen, sieht Bell zwei realistische Handlungsoptionen. Der bisherige Originalhersteller vertreibt seine Instrumente selbst und lässt sich dafür mit allen Konsequenzen zertifizieren, was mit hohen Kosten verbunden ist. „Für kleine Betriebe sind diese nicht zu bewältigen“, so Bell.

Oder das Unternehmen wird zur „verlängerten Werkbank“ des Händlers und übergibt diesem die vollständige Akte. Sie beinhaltet nicht nur die technische Dokumentation, sondern auch Aufzeichnungen aus dem QM-System sowie Informationen über Zulieferer und ausgelagerte Prozesse. In dieser Variante muss der Originalhersteller nicht mehr auf dem Label erscheinen, da der Händler alle Herstellerpflichten übernimmt. „Das ist für mich der einzig gangbare Weg“, sagt Bell. Er rät den Unternehmen, die als verlängerte Werkbank fungieren, dazu, dem Händler die Dokumente zur MDR-Zertifizierung selbst zusammenzustellen und ihn nicht einfach alle Informationen abgreifen zu lassen.

Die Firma Faulhaber aus Frittlingen arbeitet unter anderem nach dem Prinzip „verlängerte Werkbank“. Dorothea Faulhaber weist darauf hin, dass die Erstellung der Dokumentation eine zusätzliche Dienstleistung ist, die sich Medizintechnikbetriebe vergüten lassen müssen: „Die Kunden verstehen, dass es dadurch mehr kostet und sich die Preise erhöhen.“

Wichtig sei zudem, dass Unternehmen sofort die erforderlichen Anpassungen der MDR angehen: „Man sollte sich bewusst sein, dass die Zeit abgelaufen ist. Bei uns wurden die Weichen direkt nach Ankündigung der neuen MDR gestellt.“

Existenzängste bei Betrieben

Gerade kleine Familienbetriebe treffen die neuen Anforderungen der MDR aber besonders hart, wie ein Unternehmer aus dem Tuttlinger Großraum berichtet: „Damit kann ein Familienbetrieb finanziell nicht umgehen. Viele werden verkaufen müssen. Die Hoffnung ist, dass wir noch vier oder fünf Jahre Aufschub bekommen.“ Harald Butsch, Geschäftsführer von med-commerce Medizintechnik in Wurmlingen, geht in seiner Kritik noch etwas weiter: „Das zeigt, wie sich die Branche in einem bürokratischen Monster verfängt. Die MDR sollte überarbeitet werden. Erst wird es kleine Unternehmen mit der Kostenexplosion treffen, dann die Krankenhäuser und am Schluss den Patienten.“ Ein anderer Hersteller aus dem Großraum Tuttlingen befürchtet die Monopolstellung von einigen wenigen Medizintechnikunternehmen: „Wenn es einem gelingt auf den Mars zu fliegen, dann müssen sofort alle hinterherfliegen, sonst sind sie durchgeflogen.“

Heiko Bell ist sich jedoch sicher: Der Termin am 26. Mai 2020 steht. Dann wird sich zeigen, wie die neue EU-Medizinprodukteverordnung die Branche und vor allem die Unternehmen im Tuttlinger Großraum verändern wird.

 EU-Medizinprodukteverordnung (MDR)

Die neue EU-Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation – kurz: MDR) wurde 2017 im Amtsblatt der EU veröffentlicht und ist nach einer dreijährigen Übergangszeit ab dem 26. Mai 2020 verpflichtend anzuwenden. Sie ersetzt die aktuelle Medizinprodukterichtlinie (93/42/EWG) sowie die Richtlinie über aktive implantierbare medizinische Geräte (90/385/EWG).

Die neuen Anforderungen laut Heiko Bell:

§  Die Anforderungen an den Inhalt der Technischen Dokumentation werden in einem neuen Anhang 2 der Medical Device Regulation zukünftig deutlich detaillierter geregelt. Die kontinuierliche Aktualisierung dieser Unterlagen ist eine der neuen Anforderungen.

§  Klinische Bewertungen und klinische Prüfungen werden detaillierter geregelt und vorgeschrieben. Dabei wird die Medical Device Regulation konkreter, was Art und Qualität der klinischen Daten betrifft.

§  Auch Post-Market-Daten aus dem nun wichtigeren Post-Market-Surveillance sind einzubeziehen, mit denen die klinische Bewertung aktualisiert werden muss.

§  Die Höherklassifizierung bestimmter stofflicher und chirurgisch-invasiver Medizinprodukte

§  Jedes Produkt muss zukünftig eine eindeutige Produktidentifizierungsnummer (UDI) erhalten.

§  Die Anforderungen an die Endreinigung/Erstauf- und Wiederaufbereitung von Medizinprodukten sind eindeutig mit Gebrauchsfähigkeit nachzuweisen.
 

 Förder- und Beratungsmöglichkeiten bietet die Beratungs- und Wirtschaftsförderungsgesellschaft für Handwerk und Mittelstand mbH, Michael Keck, Tel. 0711/263709-151, mkeck@bwhm-beratung.de

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