Herzog
Dieter Marx
Silke Herzog in ihrem Augenoptikergeschäft "Sehland" in Schwenningen.

ExistenzgründungIm Westen was Neues

Frau Herzog, Sie sind in Jena geboren. Ihre Berufswahl kann also kein Zufall gewesen sein. Aber wie kamen Sie mitten nach Schwenningen?

Silke Herzog: Das hat sich ganz zufällig so ergeben. 1989, noch vor der Maueröffnung, bin ich mit meiner vierjährigen Tochter über die ungarische Grenze nach Gießen geflüchtet. Dort landeten wir zunächst in einem Auffanglager. Aber schon eine Woche später habe ich angefangen bei Apollo zu arbeiten. Die Kollegen erzählten mir kurz darauf, dass in Schwenningen eine Teilzeit-Stelle frei sei. Also bin ich mit Sack und Pack nach Tuningen gezogen. Aus der Teilzeit-Stelle wurde dann leider nichts und so musste ich Vollzeit arbeiten. Das war mit Kind schon etwas kompliziert, aber es funktionierte. Und ein Jahr später habe ich das Geschäft auch schon übernommen. Für Apollo war der Laden damals zu klein.

Wie haben Sie den Mauerfall miterlebt?

Damals war ich gerade in einem Übergangswohnheim im Lahntal und habe es im Radio gehört. Es war schon ein wenig komisch, denn ich hatte zuvor alles zurückgelassen und nun waren die Grenzen auf einen Schlag offen. Natürlich habe ich mich gefreut, dass es jetzt möglich war, Freunde und Familie wieder besuchen zu können. Und auch Telefonieren ging endlich, das hatte wegen des überlasteten Telefonnetzes der DDR leider nie funktioniert. Allerdings hatte ich tatsächlich nie daran gedacht, wieder zurück in den Osten zu gehen. Auch wenn ich immer ein bisschen Heimweh im Herzen hatte. Aber für solche Gedanken war im Alltag mit Kind und Selbständigkeit schlichtweg keine Zeit.

Was war Ihr Motiv, aus der DDR zu flüchten?

Ehrlich gesagt, war das für mich einfach ein großes Abenteuer, das ich auch noch ziemlich blauäugig angegangen bin. Ich war 28, frisch geschieden und hatte weder eine Westmark in der Tasche, noch kannte ich jemanden dort.

Neu im Westen und neu in der Selbständigkeit – das klingt nach einer sehr anstrengenden Zeit. Wie haben Sie die Unterschiede erlebt?

Das war sehr aufregend – vor allem die Sprache! Wenn richtige Schwenninger Urgesteine in den Laden kamen, war das manchmal recht lustig. Aber am Ende hat man sich doch immer verstanden – manchmal eben auf kleinen Umwegen. Klar, sind die Leute anders, aber darauf hatte ich mich eingestellt. Was mich deutlich mehr überrascht hat, war die Vielfalt der Glasarten. Bis ich alle Entspiegelungsmöglichkeiten kannte, hat das eine Zeit gedauert. Auch die freie Marktwirtschaft war ein großes Rätsel für mich. Im Osten habe ich mich geldtechnisch immer sicher gefühlt, da konnte einem nicht viel passieren. Hier im Westen allerdings konnten einen Fehler teuer zu stehen kommen.

Wie verlief Ihr Weg in die Selbständigkeit?

Das ging richtig zackig, Bürokratie war damals kein Thema. Den Kredit bekam ich problemlos und auch meine berufliche Ausbildung wurde anerkannt. Viel schwieriger fand ich die Frage, ob ich mir das überhaupt zutraue. Und ob ich alle Mitarbeiter übernehme. Dazu kam die Skepsis mancher Kunden mir gegenüber.  Schließlich kam ich aus dem Osten und war ich mit meinen 28 Jahren auch noch die jüngste Augenoptikermeisterin, die mein Arbeitgeber in Westdeutschland beschäftigte. Aber mittlerweile sind die größten Skeptiker von damals mittlerweile meine treuesten Kunden. So läuft es ja fast immer.

Was speziell war anders an der Arbeit einer Augenoptikerin in der DDR und im Schwarzwald?

Die ganze Arbeitsweise. Vor den Industrieläden im Osten haben sich immer lange Schlangen gebildet, durch die man sich zu Beginn der Mittagspause und auch nach Feierabend einen Weg bahnen musste. Hier im Westen gab es dagegen auch immer mal wieder Zeiten, in denen eine Stunde lang kein einziger Kunde den Laden betrat. Das hat mich anfangs richtig beängstigt, mit dieser freien Zeit musste ich erst lernen umzugehen. Aber auch der Umgang mit Kunden war Neuland für mich. Denn in der DDR wollte der Kunde etwas von dir, hier willst Du etwas vom Kunden – das sind komplett andere Rollenmuster, in die ich mich erst einfinden musste. Dazu kam natürlich auch das Thema Werbung, das gab es im Osten schlichtweg nicht.

Wann war der Zeitpunkt, an dem Sie sich gesagt haben: ‚Jetzt bin ich angekommen‘?

Das war, als ich 2007 zusammen mit meinem Freund, der aus dem Hochschwarzwald kommt, nach Eisenbach gezogen bin.  Die Leute hier sind sehr weltoffen, hilfsbereit und unglaublich fleißig. Allerdings muss ich zugeben, dass ich mich hin und wieder auch wie ein Indianer fühle: Hier gehöre ich nicht wirklich dazu, weil meine Familie und meine Schulfreunde noch im Osten sind. Aber im Osten gehöre ich genau so wenig dazu.

Sind Sie ein bisschen stolz auf die junge Frau von damals, die so ein großes Wagnis eingegangen ist?

Ich bin nicht der Typ, der stolz ist. Aber in der Vorbereitung auf dieses Interview habe ich zum ersten Mal reflektiert, dass ich trotz aller Widrigkeiten nun schon 30 Jahre lang durchgehalten habe. Und auf eine Sache bin ich tatsächlich auch ein bisschen stolz. Nämlich, dass ich schon eine Woche, nachdem ich im Westen angekommen war, eine Arbeitsstelle gefunden hatte. Das war mir sehr wichtig, denn ich wollte schon immer unabhängig sein. Alles andere wäre mir furchtbar unangenehm gewesen.

Hat sich die Selbständigkeit rückblickend für Sie gelohnt?

Es war auf jeden Fall der richtige Weg für mich, ja. Aber einfach war es nie. Die Bürokratie nimmt immer mehr überhand und gleichzeitig muss ich mit der Konkurrenz aus dem Internet Schritt halten. Ich habe mich für eine Zusammenarbeit mit dem Portal Brille.de entschieden. Das heißt, ich mache für deren Kunden die Augenprüfungen und passe die Brillen entsprechend an. Der Kauf erfolgt online über das Portal, ich erhalte lediglich einen Anteil des Kaufpreises. Der Vorteil ist, dass dadurch mein Laden gut besucht und dadurch auch attraktiver für Laufkundschaft ist. Ein weiteres Standbein ist meine Sehschule, die ich letztes Jahr über meinem Laden eröffnet habe. Dort bieten wir Visualtraining für Kinder und Erwachsene an, die beispielsweise häufig Buchstaben verwechseln oder die durch häufige Arbeit vor dem Bildschirm an Übelkeit leiden. Man muss immer am Ball bleiben, um im Geschäft zu bleiben.

Von heute und vom Schwarzwald aus gesehen: Wie weit ist der Osten vom Westen noch weg und umgekehrt?

In den Köpfen vieler Menschen sind Ost und West leider immer noch weit voneinander entfernt. Aber bei jungen Menschen, so um die 30, gibt es diese Unterscheidung zum Glück schon nicht mehr.

Wie geht es für Sie weiter, haben Sie Pläne für die Zukunft?

Jetzt möchte ich erst einmal meinen Laden weiter stabil führen – darauf liegt derzeit mein Hauptaugenmerk. Wie es danach weitergeht, ist offen. Aber ein Traum von mir wäre, in der Rente die Winter in Spanien oder Frankreich zu verbringen und dort auch in meinem Beruf zu arbeiten. Leider wird meine Ausbildung dort nicht anerkannt. Mal sehen, was die Zukunft bringt. Ich lasse mich gerne überraschen.